Am 18.12.2011 ist in der Welt am Sonntag dieser Artikel erschienen.

Dieser Artikel ist sehr ähnlich wie von der Neuen Osnabrücker Zeitung.

Welt am Sonntag 18.12.2011

Für die meisten bleibt es ein Traum

Der Boom am deutschen Arbeitsmarkt geht an schwerbehinderten Menschen vorbei. Statt Arbeitsplätze anzupassen, leisten viele Unternehmen lieber Strafzahlungen. Die gesetzliche Quote hilft den Betroffenen nicht


Dass es so schwer werden würde, einen Arbeitsplatz zu finden, hätte Sarah Rheinländer nicht gedacht. Seit rund eineinhalb Jahren sucht die Mediengestalterin einen Job. Sie würde auch umziehen, weg aus ihrer Heimatstadt Haan bei Düsseldorf. Mehr als 100 Bewerbungen hat sie geschrieben, keine führte zum Vorstellungsgespräch. Die Medien berichten vom "Aufschwung am Arbeitsmarkt", einem "Job-Wunder" - doch Rheinländer profitiert davon nicht. Der Grund: Sie ist schwerbehindert.

Mit ihren Problemen bei der Jobsuche ist die 21-Jährige keine Ausnahme. Während die Arbeitslosigkeit in Deutschland seit dem Krisenjahr 2009 stark gesunken ist, stieg die Zahl Schwerbehinderter ohne Job. So waren im November 2009 insgesamt 164 376 Menschen mit Behinderung arbeitslos gemeldet, im November 2011 dagegen 172 602. In den vergangenen zwölf Monaten sank die Zahl der Arbeitslosen mit Behinderung zwar leicht um 0,4 Prozent - die Arbeitslosigkeit insgesamt fiel aber um 7,3 Prozent.

"Ich denke, viele haben Angst, mich einzustellen, weil ich schwerbehindert bin", vermutet Rheinländer: "Nach dem Motto: Wenn wir sie einmal eingestellt haben, dann werden wir sie nicht mehr los." Dabei könnten ihre Fähigkeiten eine Bereicherung für die Firma sein. "Ich bin zwar laut Ausweis mit einem Grad von 100 Prozent schwerbehindert, aber das heißt ja nicht, dass ich zu 100 Prozent nicht zu gebrauchen bin", sagt sie.

Seit ihrer Geburt leidet Sarah Rheinländer unter AMC, einer Krankheit, bei der die Gelenke versteifen. Deswegen sitzt sie im Rollstuhl. Trotzdem ging sie auf normale Schulen, absolvierte die Realschule. "Ich kann auch einen Computer trotz meiner Behinderung ohne Schwierigkeiten bedienen", sagt sie. Derzeit macht Rheinländer eine Weiterbildung für Webdesign. "Meine Freunde erzählen mir oft, wie viel Spaß ihnen ihr Beruf macht", sagt sie: "Ich denke dann: Das will ich auch!"

Gerne würde die junge Frau in einem kleinen Betrieb arbeiten. Sie glaubt aber, dass ihre Chancen in einem Konzern besser wären. Die Statistik gibt ihr recht: Gerade kleine und mittlere Unternehmen tun sich schwer damit, die gesetzliche Quote zu erfüllen. Die sieht vor, dass Betriebe mit mehr als 20 Mitarbeitern mindestens fünf Prozent ihrer Stellen mit Schwerbehinderten besetzen müssen. In Wirklichkeit waren 2009 in Betrieben mit 20 bis unter 40 Arbeitsplätzen laut Arbeitsagentur nur 2,8 Prozent Schwerbehinderte beschäftigt. Betriebe mit 10 000 und mehr Arbeitsplätzen kommen auf 5,8 Prozent. Besser sind nur öffentliche Arbeitgeber, bei denen 6,3 Prozent der Stellen 2009 mit schwerbehinderten Menschen besetzt waren.

Einer Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zufolge beschäftigen 40 Prozent der deutschen Arbeitgeber sogar weniger als ein Prozent Schwerbehinderte. "Fast jedes zweite Unternehmen erfüllt die gesetzliche Beschäftigungspflicht von Menschen mit Behinderungen nicht", sagt DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach: "Es kann nicht sein, dass einerseits über Fachkräftemangel geklagt wird und andererseits Bewerberinnen und Bewerber nicht eingestellt werden, nur weil sie ein Handicap haben."

Zumal die Zahl der Menschen mit Behinderung durch die demografische Entwicklung steigt. Mehr als 80 Prozent der Behinderungen treten erst im Alter auf. Bis 2021 dürfte die Zahl schwerbehinderter Menschen laut Arbeitsagentur um zehn Prozent über dem Stand von 2005 liegen. Damals galten rund drei Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter als schwerbehindert. Seither ist die Zahl bereits gestiegen.

Dass schwerbehinderte Menschen trotz der Probleme einen Job finden, liegt an Menschen wie Michael Pätzold. Er leitet das Team für Rehabilitanden und Schwerbehinderte bei der Arbeitsagentur Düsseldorf, von dem auch Sarah Rheinländer betreut wird. Die Agentur unterstützt Menschen mit Behinderung bei der Jobsuche und hilft ihnen bei Problemen. Sie zahlt Firmen Zuschüsse für nötige Umbauten oder die Anschaffung spezieller Arbeitsgeräte. Sogar Teile des Gehalts kann die Behörde anfangs übernehmen, wenn ein Betrieb einen Menschen mit Behinderung einstellt. "Das tun wir natürlich immer in der Hoffnung, dass der Beschäftigte anschließend übernommen wird", sagt Pätzold.

Im Düsseldorfer Mercedes-Werk hat sein Team schon viele Mitarbeiter unterstützt. Für einen Rollstuhlfahrer wurde der Arbeitsplatz in der Produktion umgebaut und barrierefrei gestaltet. Zusätzlich wurde ein spezieller Arbeitsstuhl angeschafft, da der Mitarbeiter schweißen musste. "Das hat dem Betroffenen damals sehr geholfen", erinnert sich Josef-Franz Krettek, Vertrauensperson der schwerbehinderten Menschen im Werk: "Inzwischen kann er ohne Rollstuhl arbeiten und hat eine Prothese."

Daimler ist ein positives Beispiel für die Integration von Menschen mit Behinderung. Die gesetzliche Quote erfüllt der Konzern schon seit 2001. Aktuell liegt der Anteil schwerbehinderter Mitarbeiter bei rund 5,7 Prozent, im Düsseldorfer Werk sogar bei 8,3 Prozent.

Viele davon sind hörgeschädigt. Gruppengespräche werden oft schriftlich geführt, zu Versammlungen und Personalgesprächen kommt ein Gebärden-Dolmetscher; für Mitarbeiter mit psychischen Erkrankungen gibt es eine Sozialberaterin. Seit Krettek 1994 Vertrauensperson 1994 wurde, ist die Quote der schwerbehinderten Beschäftigten Jahr für Jahr gestiegen: "Anfangs gab es viele Diskussionen, da mussten wir viel Überzeugungsarbeit leisten", erinnert sich Krettek, der selbst hörgeschädigt ist.

Daimler stellt auch Azubis mit Behinderung an - allein in diesem Jahr zwei im Düsseldorfer Werk. "In einem Umfeld, in dem Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten zusammenarbeiten, verbessern sich soziale Kompetenz und Teamgeist. Alle Beteiligten profitieren voneinander", sagt Wilfried Porth, Personalvorstand des Konzerns.

Diese Einschätzung teilen nicht alle Unternehmen. Die meisten zahlen lieber Strafe. Denn wer die Quote verfehlt, muss eine Ausgleichsabgabe an die Integrationsämter entrichten, die wiederum schwerbehinderte Menschen fördern. Viele Unternehmen nutzen diesen Ablasshandel; allein 2009 kauften sich 60 Prozent von der Pflicht frei, Schwerbehinderte zu beschäftigen. In vielen Großstädten kommen so Millionensummen zusammen. So zahlten Firmen in Düsseldorf im vergangenen Jahr 17,3 Millionen Euro Strafe, in Berlin waren es 20,3 Millionen Euro, in Stuttgart 8,4 Millionen Euro. Im Bezirk der Arbeitsagentur München - inklusive Landkreisen - kamen 93 Millionen Euro zusammen.

Angesichts dieser Zahlen plädiert der DGB für eine Anhebung der Abgabe. Bislang liegt sie zwischen 105 und 260 Euro monatlich für Betriebe ab 20 Mitarbeitern. "Es muss stärkere finanzielle Anreize geben, damit diese Unternehmen mehr schwerbehinderte Menschen einstellen", verlangt Buntenbach.

Dabei werden gerade Menschen mit einer geistigen Behinderung künftig noch schwerer einen Job finden. Schuld ist die zunehmend komplexere Arbeitswelt, durch die es immer weniger einfache Arbeiten gibt. "Einen Rollstuhlfahrer mit Abitur bekommt man sofort vermittelt, bei einem Menschen mit geistiger Behinderung ist es schwerer, selbst wenn er körperlich topfit ist", sagt Vermittler Pätzold. Ihnen bleibt oft nur die Arbeit in Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Pätzold rät ihnen dennoch, nicht aufzugeben: "Wir können helfen und begleiten, aber letztlich zählt die Motivation des Arbeitssuchenden. Schließlich wollen die Betriebe eigenständige und aktive Mitarbeiter." Menschen wie Sarah Rheinländer.

Pätzold kann sich nicht erklären, warum die junge Frau bislang keinen Job gefunden hat: "Wir sind aber weiter dran und bleiben dran." Rheinländer will weiterhin Bewerbungen schreiben, jede Woche mindestens vier Stück. "Vielleicht klappt es ja noch in diesem Jahr mit einem Job", hofft sie. "Das wäre dann mein größtes Weihnachtsgeschenk."


Quelle: http://www.welt.de/print/wams/wirtschaft/article13773101/Fuer-die-meisten-bleibt-es-ein-Traum.html


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